Discussion:
"wegen fein" (Berliner Slang 20er-30er??)
(zu alt für eine Antwort)
Hauke Reddmann
2024-05-19 07:09:11 UTC
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Tach.
Diese Redewendung fand ich bei Kurt Tucholsky* schon
mehrerererere Male, kann aber aus dem Kontext
keine sichere Bedeutung erschließen. ChatGPT
hat wie immer zu allem eine Meinung, aber keine
Checkung. Haben wir hier zufällig einen
eingeborenen Altbalina, der die Phrase noch kennt?

* Z.B. in "Der kranke Zeisig"
--
Hauke
wolfgang s
2024-05-19 08:24:13 UTC
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Berliner Slang 20er-30er??
Welches Jahrhunderts?
Diese Redewendung fand ich bei Kurt Tucholsky* schon
mehrerererere Male, kann aber aus dem Kontext
keine sichere Bedeutung erschließen.
"wegen <Stichwort>" ist Telegrammstil, wofür ergibt sich aus dem
Kontext. IMHO ist das selbsterklärend. Besonders Berlinisch kommt es
mir nicht vor, vielleicht eine persönliche Marotte.

Ich hab mal ein paar Tucholsky-Stellen ergoogelt:

"Linksleute behandelt er nicht, wegen fein."
-> Weil er sich dafür zu fein ist.

"Sie haben nicht Brot auf Hosen, aber eine alte Bettdecke ist Pyjama,
ein Teller Fingerschale, und in allem Kummer hat man immer so viel
feine Sitte, noch schnell vor dem Todessprung am Hütchen zu rücken.
Wegen fein." -> Um sich eine gewisse Feinheit zu bewahren.
--
Currently listening:


http://www.wschwanke.de/ usenet_20031215 (AT) wschwanke (DOT) de
Stefan Ram
2024-05-19 11:51:05 UTC
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Post by Hauke Reddmann
Diese Redewendung fand ich bei Kurt Tucholsky* schon
mehrerererere Male, kann aber aus dem Kontext
keine sichere Bedeutung erschließen. ChatGPT
hat wie immer zu allem eine Meinung, aber keine
Checkung. Haben wir hier zufällig einen
eingeborenen Altbalina, der die Phrase noch kennt?
Ich hatte bis hier gelesen, und dann im Web danach gesucht.
Das erste, was ich dann fand, war "Der kranke Zeisig".
Post by Hauke Reddmann
* Z.B. in "Der kranke Zeisig"
Jetzt sehe ich, daß Du diese Quelle hier auch selber schon angegeben
hast! Das könnte bedeuten, daß diese Redeweise nicht sehr verbreitet
ist und war.

Spontan hatte ich es als "weil er sich dafür zu fein ist" verstanden,
bevor ich in "Der kranke Zeisig" las. Nachdem ich dies las, empfand
ich es so, daß der Kontext dort mit dieser Interpretation vereinbar
ist.

Beim Weitersuchen jetzt noch zwei Mal "Der kranke Zeisig"
gefunden, aber nichts anderes! (Allerdings hatte ich die
Suche etwas eingeschränkt.)

Es handelt sich hierbei vielleicht um ein Spiel mit einem absichtlich
falschem Sprachgebrauch. Ich glaube, daß man so etwas im Berlinischen
manchmal findet. Berliner sind sehr selbstbewußt und lassen sich eben
von Grammatiken keine Vorschriften machen.

Aus einem Web-Forum von 2023:

|>Ich dachte, vielleicht gibt es ja irgendeine eine Erklaerung
|>fuer diesen doch sehr eintoenigen Geschmack bei den meisten
|>Autofahrern? Gruss,
|Ja, ich vermute, weil die Farben eben so beliebt waren, von
|wegen "vornehm"

. Das finde ich ganz analog, nur mit "vornehm" statt "fein".
(Wobei die Anführungszeichen in dem Web-Forum eine gewissen
"Reifizierung" [Substantivierung] von "vornehm" ausdrücken
und so versuchen, die Verwendung damit etwas "grammatischer"
zu machen.)
Stefan Schmitz
2024-05-19 12:35:10 UTC
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Post by Stefan Ram
Post by Hauke Reddmann
Diese Redewendung fand ich bei Kurt Tucholsky* schon
mehrerererere Male, kann aber aus dem Kontext
keine sichere Bedeutung erschließen. ChatGPT
hat wie immer zu allem eine Meinung, aber keine
Checkung. Haben wir hier zufällig einen
eingeborenen Altbalina, der die Phrase noch kennt?
Ich hatte bis hier gelesen, und dann im Web danach gesucht.
Das erste, was ich dann fand, war "Der kranke Zeisig".
Post by Hauke Reddmann
* Z.B. in "Der kranke Zeisig"
Jetzt sehe ich, daß Du diese Quelle hier auch selber schon angegeben
hast! Das könnte bedeuten, daß diese Redeweise nicht sehr verbreitet
ist und war.
Spontan hatte ich es als "weil er sich dafür zu fein ist" verstanden,
bevor ich in "Der kranke Zeisig" las. Nachdem ich dies las, empfand
ich es so, daß der Kontext dort mit dieser Interpretation vereinbar
ist.
Beim Weitersuchen jetzt noch zwei Mal "Der kranke Zeisig"
gefunden, aber nichts anderes! (Allerdings hatte ich die
Suche etwas eingeschränkt.)
Es handelt sich hierbei vielleicht um ein Spiel mit einem absichtlich
falschem Sprachgebrauch. Ich glaube, daß man so etwas im Berlinischen
manchmal findet. Berliner sind sehr selbstbewußt und lassen sich eben
von Grammatiken keine Vorschriften machen.
|>Ich dachte, vielleicht gibt es ja irgendeine eine Erklaerung
|>fuer diesen doch sehr eintoenigen Geschmack bei den meisten
|>Autofahrern? Gruss,
|Ja, ich vermute, weil die Farben eben so beliebt waren, von
|wegen "vornehm"
. Das finde ich ganz analog, nur mit "vornehm" statt "fein".
(Wobei die Anführungszeichen in dem Web-Forum eine gewissen
"Reifizierung" [Substantivierung] von "vornehm" ausdrücken
und so versuchen, die Verwendung damit etwas "grammatischer"
zu machen.)
Hier steht allerdings "von wegen" vor dem Adjektiv und nicht nur
"wegen". Das ist etwas ganz anderes und kann hier je nach Tonfall
zweierlei bedeuten. Einerseits "auf keinen Fall", andererseits die
Zusammenfassung der Aussage eines anderen. Hier tippe ich auf zweiteres.
Mit "wegen" allein ist mir das noch nicht begegnet.
Stefan Ram
2024-05-19 13:55:03 UTC
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Post by Stefan Ram
|Ja, ich vermute, weil die Farben eben so beliebt waren, von
|wegen "vornehm"
Im Web findet man:

|Eine Präposition wie "wegen" verlangt als Komplement eine Nominalgruppe

. Scherman führte 2011 auf:

|Bevor du nach Hause gehst, mußt du deinen Kollegen noch über
|unsere Entscheidung von gestern ins Bild setzen. Er war nicht
|da, muß aber Bescheid wissen, wegen morgen früh . . .

. Zumindest wegen der Nichtgroßschreibung von "morgen früh"
können wir dies als eine /adverbiale Bestimmung/ und nicht als
/Nominalgruppe/ ansehen. Dann wäre dies ein weiteres Beispiel
für "wegen" mit etwas, das keine Nominalgruppe ist.

(Eine Nominalisierung findet man übrigens auch in "Wegen
verlangt den Genitiv.", denn hier wird "wegen" [das nur
groß geschrieben ist, weil es am Anfang eines Satzes steht]
selber als Nominalgruppe verwendet und nicht als Präposition.)
Stefan Ram
2024-05-19 22:09:06 UTC
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Post by Stefan Ram
Es handelt sich hierbei vielleicht um ein Spiel mit einem absichtlich
falschem Sprachgebrauch.
Die Verwendung einer Wortart für eine andere wird auch "Antimerie"
genannt.

|An|ti|me|rie die; , ...ien <zu ↑anti..., gr. méros »Teil« u.
|2↑...ie> Vertauschung eines Redeteils gegen einen anderen
|(Rhet.)

Zum Beispiel ist "naß" ein Adjektiv. "Das Wasser ist naß.".
Aber in "Sie tauchte in das schäumende Naß." wird es als
Substantiv verwendet. Oder "Okay" als Verb:

"Ich in damit nicht zufrieden!"
- "Okay."
- "Und okay mich nicht!".

. Man könnte also in "wegen fein" auch ein Art von Antimerie
sehen, bei der ein Adjektiv für ein Substantiv verwendet wird.

Bei den klassischen Antimerien wird aber das Wort mehr an die
neue Wortart angeglichen. Dann würde man "Fein(s)" schreiben.

"Turtle" ist ein englisches Substantiv. In "He turtled." sieht
man eine Antimerie eines Substantivs in ein Verb, aber "turtle"
wurde hier mir "-ed" an eine Verbform angeglichen. Man hat das
Substantiv "turtle" nicht direkt belassen wie in "He turtle.".

In "wegen fein" bleibt "fein" aber Adjektiv. Daher ist es keine
klassische Antimerie, aber hat einige Eigenschaften einer Antimerie.

|Anthimeria
|
|Otherwise known as "Using words in the wrong place for
|effect", have you ever tried this? What I mean is taking a
|known word and using it in its typical context but in a
|slightly different place in the sentence. Let me give some
|examples:
|
|"Can you action that?" - every business meeting since about 1998
|"My sea-gown scarf'd about me." - Hamlet, William Shakespeare
|"How to Television" - Amazon ad slogan
|"I'll get you, my pretty" - The Wizard of Oz

Absichtliche Fehler sind häufig in der Werbesprache zu finden!
Ulf_Kutzner
2024-05-20 06:43:17 UTC
Permalink
Post by Stefan Ram
Post by Stefan Ram
Es handelt sich hierbei vielleicht um ein Spiel mit einem absichtlich
falschem Sprachgebrauch.
Die Verwendung einer Wortart für eine andere wird auch "Antimerie"
genannt.
|An|ti|me|rie die; , ...ien <zu ↑anti..., gr. méros »Teil« u.
|2↑...ie> Vertauschung eines Redeteils gegen einen anderen
|(Rhet.)
Zum Beispiel ist "naß" ein Adjektiv. "Das Wasser ist naß.".
Aber in "Sie tauchte in das schäumende Naß." wird es als
"Ich in damit nicht zufrieden!"
- "Okay."
- "Und okay mich nicht!".
. Man könnte also in "wegen fein" auch ein Art von Antimerie
sehen, bei der ein Adjektiv für ein Substantiv verwendet wird.
Bei den klassischen Antimerien wird aber das Wort mehr an die
neue Wortart angeglichen. Dann würde man "Fein(s)" schreiben.
"Turtle" ist ein englisches Substantiv. In "He turtled." sieht
man eine Antimerie eines Substantivs in ein Verb, aber "turtle"
wurde hier mir "-ed" an eine Verbform angeglichen. Man hat das
Substantiv "turtle" nicht direkt belassen wie in "He turtle.".
In "wegen fein" bleibt "fein" aber Adjektiv. Daher ist es keine
klassische Antimerie, aber hat einige Eigenschaften einer Antimerie.
|Anthimeria
|
|Otherwise known as "Using words in the wrong place for
|effect", have you ever tried this? What I mean is taking a
|known word and using it in its typical context but in a
|slightly different place in the sentence. Let me give some
|
|"Can you action that?" - every business meeting since about 1998
|"My sea-gown scarf'd about me." - Hamlet, William Shakespeare
|"How to Television" - Amazon ad slogan
Absichtliche Fehler sind häufig in der Werbesprache zu finden!
Many nouns can be verbed...
Stefan Ram
2024-05-20 11:55:29 UTC
Permalink
Post by Stefan Ram
|An|ti|me|rie die; , ...ien <zu ↑anti..., gr. méros »Teil« u.
|2↑...ie> Vertauschung eines Redeteils gegen einen anderen
|(Rhet.)
(Ich habe im folgenden ein Wort, das als anstößig empfunden werden
könnte, mit "S..." dargestellt.)

Herrndorf schrieb in "Tschik":

|Sie machte mit dem Zeigefinger einen Kreis um ihren Mund und meinte:
|"Und ich dachte schon, ihr seid S.... Wegen hier Lippenstift."

. (Man findet im Web auch die Schreibungen "Wegen hier – Lippenstift"
und "Wegen hier. Lippenstift.", die sich wohl als Verschriftlichung
der Tonspur des Filmes erklären lassen.)

Dies wird auf einer schweizerischen Webseite als /Solözismus/
bezeichnet.

|Ein Solözismus ist ein grober sprachlicher Fehler in der
|Syntax. In der linguistischen Betrachtungsweise kommen
|Solözismen vor allem dann vor, wenn die Satzglieder nicht
|richtig miteinander verbunden werden.
Stefan Ram
2024-05-20 13:31:08 UTC
Permalink
Post by Stefan Ram
|"Und ich dachte schon, ihr seid S.... Wegen hier Lippenstift."
Dies wird auf einer schweizerischen Webseite als /Solözismus/
bezeichnet.
Man muß dieser Interpretation nicht unbedingt folgen und
könnte statt dessen sagen, daß es sich hier einfach um ein
Gebiet handelt, auf dem die gesprochene Sprache nicht mit
den Regeln der Schriftsprache beschrieben werden kann.

Stefan Ram
2024-05-19 14:40:08 UTC
Permalink
Subject: Re: "wegen fein" (Berliner Slang 20er-30er??)
Vollkommen grammatisch ist "wegen fein" natürlich in:

|Diese Erbsen sind ihrer Kleinheit wegen fein.

. Sonst finde ich nur noch:

|Aber sag ihm nichts von der Geschicht'! Es ist wegen später.
|Deine Josefine
"Die kleine Komödie" (1893), "Josefine Weninger an Helene
Beier in Paris" - Arthur Schnitzler (1862/1931)

. Hier folgt auf "wegen" die Wortgruppe "später", welche keine
Nominalgruppe ist. Zusammen mit "morgen früh" können wir daher
vermuten, daß neben Nominalgruppen es adverbiale Bestimmungen
der Zeit sind, die hier noch am ehesten zulässig sind, aber
wegen ihrer Seltenheit im Geschrieben in Wörterbüchern oder
Grammatiken selten ausdrücklich erwähnt werden.
Lesen Sie weiter auf narkive:
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