[Vorsicht: länglich und für Stammleser ausgelutscht]
Post by Hendrik van HeesDer "Quantensprung" ist nicht diskutierbar,
Willkommen in de.etc.sprache.deutsch!
Auf Fachsprachenchauvinismus und monopolistische
Vereinnahmung von Begriffen fahren wir hier voll ab.
"Quantensprung" ist mittlerweile ausreichend gängig,
daß man sich durchaus mal Gedanken über dessen Ursprung
und heutigen Mainstream-Gebrauch - und die vielleicht
diskontinuierlichen Übergänge dazwischen - machen kann.
Post by Hendrik van Heesdenn in der Quantentheorie springt nichts, aber auch
gar nichts. Die Zeitentwicklung der Zustände ist
sogar differenzierbar, also glatt und damit unitär,
Hmhmhm, Extreme Buzzwording für Anfänger? Oder ein
Pissing Contest, ob das naturwissenschaftliche Niveau in
d.e.s.d höher ist als das sprachliche in de.sci.physik?
Lassen wir das besser, zumal "differenzierbar, also glatt"
auch eher nach Physik statt reinster Mathematik klingt.
Und - um mal mit einer sprachlichen reductio ad absurdum zu
beginnen - aus der "Differenzierbarkeit der Zeitentwicklung
der Zustände" eines Hochspringers zu schließen, es finde gar
kein Sprung statt, erschiene mir ein sprachlicher Mißgriff.
Zumal sich eine aufliegende Latte nur schlecht zum
Potentialtopf eignet und der Sportler damit nicht
einmal auf die Matte tunneln müßte.
Jetzt mal ernsthaft und sachlich:
_Ausgedacht_ haben sich den Begriff ja wohl die Physiker zu
Zeiten Plancks und Bohrs, nicht die Politiker der Gegenwart.
Schauen wir also mal in ein älteres Physikbuch:
| Eine Ausstrahlung erfolgt nur in den Augenblicken,
| in denen das Elektron _sprunghaft_ von einer Bahn
| (Energiestufe) auf eine andere Bahn übergeht, in
| der es eine kleinere Energie hat, wenn es also
| einen _Quantensprung_ ausführt.
(Wilhelm Heinrich Westphal: Physik. Ein Lehrbuch.
Zwölfte Auflage. 1947. Springer-Verlag. Seite 590.
Hervorhebungen im Original kursiv.)
Und damit jetzt kein Physiker beim Begriff "Bahn"
pikiert einen Herzinfarkt vortäuschen muß (Seite 591):
| Wir wollen hier sogleich bemerken, daß dieses
| mechanisch-anschauliche Bild der Atome, namentlich
| die Vorstellung von Elektronenbahnen, nicht als ein
| eigentliches Abbild einer Wirklichkeit zu werten
| ist, sondern als ein _Modell_ [...].
Im Rahmen dieses Modells finde ich "Quantensprung" für den
Übergang zwischen diskreten Zuständen durchaus anschaulich.
Was sagt der Wahrig (Band 5, 1983)?
| Übergang eines mikrophysikalischen Systems aus einem
| stationären Energiezustand in einen anderen, wobei
| Emission od. Absorption eines Quants erfolgt
Der Duden (Band 6, 1994):
| (unter Emission od. Absorption von Energie od.
| Teilchen erfolgender) plötzlicher Übergang eines
| mikrophysikalischen Systems aus einem Quantenzustand
| in einen anderen
Ergänzend in neueren Ausgaben:
| [durch eine neue Idee, Entdeckung, Erfindung, Erkenntnis
| o. Ä. ermöglichter] Fortschritt, der eine Entwicklung
| innerhalb kürzester Zeit ein sehr großes Stück voranbringt
(Und was der Zwiebelfisch sagt, können wir demnächst
ohne Quellenangaben an gewohnter Stelle lesen.)
Mein Erklärungsversuch lautet also: "Quantensprung" im Sinne
von "großer Schritt" ist entstanden aus dem plötzlichen,
nichtkontinuierlichen Übergang zwischen den diskreten
Energieniveaus des nichtfreien Elektrons. Und vielleicht
wurden Tunneleffekt und Reduktion des Wellenpakets auch
noch ein bißchen mithineingerührt.
Die ursprüngliche Kritik an diesem Begriff (in d.e.s.d
ab 1996) entzündete sich daran, daß ein Quantensprung
typischerweise ein sehr kleiner Energiesprung sei,
während der Mainstream-Gebrauch des Begriff eine
_große_ Änderung suggerieren soll.
Ich finde, daß diese Kritik nicht greift:
Zum einen von der Physik her nicht, denn - hallo, Herr
G.! - es gibt ja nicht wirklich ein absolutes kleinstes
Energiequantum, sondern die Niveaus (und die "Sprünge"
dazwischen) beziehen sich auf die diskreten Zustände des
nichtfreien Elektrons (im Bohrschen Atommodell). Außerdem
muß es sich weder um Übergänge zwischen benachbarten Niveaus
handeln, noch um einen bestimmten Kern. Im Grunde müssen es
nicht einmal Elektronen sein. Der Energiesprung sollte also
- zumindest theoretisch - beliebig groß werden können.
Zum anderen aber sehe ich auch sprachlich keinen Grund, der
_dagegen_ spräche, "Quantensprung" von seiner Urbedeutung
auf einen plötzlichen, revolutionären oder großen Übergang
oder Paradigmenwechsel zu übertragen. Machen die
Englischsprecher auch:
| an abrupt change, sudden increase, or dramatic advance
(im M-W-Collegiate in dieser Bedeutung auf 1956 datiert)
| quantum jump, an abrupt transition between one
| stationary state of a quantized system and another,
| with the absorption or emission of a quantum; also
| transf., a sudden large increase or advance; quantum
| leap, a sudden large advance; cf. quantum jump
(im OED2 mit Belegen ab 1955 für übertragenes "quantum
jump" und ab 1970 für übertragenes "quantum leap")
Post by Hendrik van Heesaber das gehört nicht hierher,
Die sprachliche Seite durchaus, zumal es Zeit für
einen zugehörigen FAQL-Eintrag ist. Auch lesen hier
genug Naturwissenschaftler mit Sprachgefühl mit.
Und ich habe nicht einmal ein Problem damit, in die FAQL
aufzunehmen, warum manche Physiker diesen Begriff heute
nicht mehr liebhaben und ihre Geschichte verleugnen.
Das wäre jetzt Dein Part. Ich lausche gebannt.