Post by Gerd ThiemePost by Heinz LohmannSprache ist nicht logisch, sondern praktisch (Jens Walter Heckmann)
Sprache ist sicher auch nicht unlogisch. Es kommt sehr darauf an, was
man unter Logik und logisch versteht.
Ich sehe da drei Möglichkeiten.
• Die klassische Aussagenlogik, an der sich die Philosophen
jahrthundertelang gewetzt haben, ohne sie von der Sprache und von
sprachlichen Paradoxa trennen zu können. Sprache hat sich gegen diese
Form der Vereinnahmung immer störrisch gezeigt. Im Neuhochdeutschen
haben wir zwar endlich die „unlogische“ doppelte Verneinung weitgehend
abgelegt. Das ist aber ein Sonderweg, dem andere Sprachen nicht gefolgt
sind. Jedenfalls ist Sprache in diesem Sinne nicht logisch, sie ist ohne
formalistische Vergewaltigung kaum fähig, logische Aussagen zu
formulieren.
Auch die doppelte Verneinung ist nicht unlogisch. Unlogisch wäre
beispielsweise, wenn ein mehrfach verneinter Satz verschiedene
Interpretationen zuließe. Man kann aber mit ein wenig Mühe
Interpretationsregeln entwickeln, bei denen die Bedeutung eines Satzes nicht
davon abhängt, ob er eine einfache oder mehrfache Verneinung enthält. Ein
wenig Mühe ist notwendig, weil es Zusätze zur Verneinung gibt wie "noch
nicht", "nicht nur" und "nicht mehr", deren Bedeutung die Bedeutung weiterer
Verneinungen modifiziert wie im Satz:
Er hat ihm nicht nur nicht geholfen, sondern ihn sogar behindert.
Aber ein einfacher Satz wie
Bei uns hat noch nie keiner keinen Mangel nicht gelitten.
(im Bairischen völlig normal) kann kaum missverstanden werden.
Inhaltlich mehrfach verneinte Sätze gibts auch offiziell, z.B. der berühmte
§ 188 BGB:
Eine nicht ernstlich gemeinte Willenserklärung, die in der Erwartung
abgegeben wird, der Mangel der Ernstlichkeit werde nicht verkannt werden,
ist nichtig.
Post by Gerd Thieme• Die boolesche Algebra, mit der die Mathematiker den Philosophen ihr
Spielzeug weggenommen haben. Sie arbeitet mit Formeln, Sprache ist
nebensächlich. Rückwirkungen auf die Sprache gibt es noch weniger als
durch die verquaste Logik der Philosophen.
Die Boolesche Algebra gehört nicht weniger zur Aussagenlogik als die
Negation eben; insofern gehört das zusammen. Die Aussagenlogik beißt sich
gelegentlich mit der Distributivität in der Sprache, dass ein gemeinsamer
Teil zweier paralleler Satzglieder nur einmal genannt werden muss:
ein Spaß für kleine und große Leute
ist ein Spaß für kleine Leute und für große Leute (distributiv), also ein
Spaß für Leute, die klein *oder* groß sind.
kompetente und freundliche Mitarbeiter
sind aber nicht Mitarbeiter, die kompetent *oder* freundlich sind; vielmehr
sind wohl eher Mitarbeiter gemeint, die kompetent *und* freundlich sind.
Ansonsten zitiere ich mich mal wieder selbst (Rest des Beitrags ist Zitat):
Newsgroups: de.etc.sprache.deutsch
Date: Fri, 12 Oct 2012 21:58:32 +0200
Subject: Re: Fachfrau (was: Die produktive deutsche Sprache)
Post by Gerd ThiemePost by Heinz LohmannSprache ist nicht immer ganz logisch.
Den Spruch hört man oft. Man könnte fast versucht sein, ihn als eine Parole
von Nicht-Fachleuten anzusehen.
Gegen ihn läßt sich nämlich einwenden, daß Sprache zwar nicht den linearen
Gesetzen der formalen Logik folgt, [...]
Auch das hat eine verstehbare Logik, nur eben nicht die einsträngige der
if-then-else-Logiker.
Mit "logisch" meint man hier "regelmäßig", und zwar *einfachen* Regeln
gehorchend. Eine Regel mitsamt allen in ihr enthaltenen Sonderregeln ist immer
noch eine Regel, und ihre Einhaltung eine Regelmäßigkeit. Und sogar Zufall
könnte eine Regel sein, wenn etwa im Duden stünde, die Adjektivendung sei
durch Würfeln zu ermitteln.
Die "if-then-else-Logiker" möchte ich hier insoweit in Schutz nehmen, als sie
mit ihren "if-then-else"n die Sonderregeln und Ausnahmen sichtbar machen.
Viele Grammatikregeln sehen so aus:
if Fall1 then Regel1 elsif Fall2 then Regel2 ... else Regelx
wobei die Regelx viel öfter zur Anwendung kommt als jede der vorhergehenden,
die man "Ausnahmen" nennt, wenn sie so selten vorkommen, dass man sie
abschließend aufzählen kann, sonst "Sonderregeln".
Der Spruch, Sprache sei nicht immer ganz logisch, ist also sehr oft so
gemeint, dass natürliche Sprache -- nur um die geht es -- sehr viel mehr
Sonderregeln und Ausnahmen enthält als der "if-then-else-Logiker" sie
eingebaut hätte, hätte man ihn die Sprache entwerfen lassen. Unterschiedliche
Sprachen haben da auch unterschiedlich komplexe Sonderregeln; Plansprachen wie
Esperanto versuchen, sie möglichst weitgehend zu vermeiden.
Ich habe jedenfalls jedes Mal viel gelernt, wenn ich versucht habe,
Grammatikregeln in if-then-else-Form umzuschreiben.
--
Helmut Richter