Discussion:
Strazzist
(zu alt für eine Antwort)
Christina Kunze
2014-12-30 06:41:19 UTC
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Was ist ein Strazzist? In einem Text aus den 40er Jahren kommt das als
Schimpfwort vor, aber ich weiß nicht (und kann auch mangels Kontext
nicht erraten), was gemeint ist.

Im Internet finde ich, dass es "kaufmännische Angestellte" sind
<http://134.130.170.2/pdfview/pdfview_pub.aspx?ID_0=2&ID_1=15&ID_2=794&ID_3=43780>

Im Grimmschen Wörterbuch gibt es eine "stratze, f., strazze, heft,
kladde zur vorläufigen eintragung aller rechnungsvorgänge, in der
sprache des kaufmanns. aus dem italien., wohl verkürzt aus
stracciafoglio 'kladde der geschäftsleute; unreiner entwurf einer
schrift'; dessen erster teil von stracciare 'papier zerreiszen', aus
mlat. extractiare 'herauszerren'; vgl. auch ital. straccetto sowie carta
straccia 'makulatur'. im deutschen seit dem 17. jh., anscheinend zuerst
im compos. strazzobuch: das memorial oder strazzo oder handbuch"

(Eine Suche nach "Stratzist" - darauf hat mich natürlich die Schreibung
bei Grimm gebracht - war ergebnislos.)

chr
Roland Franzius
2014-12-30 07:20:28 UTC
Permalink
Post by Christina Kunze
Was ist ein Strazzist? In einem Text aus den 40er Jahren kommt das als
Schimpfwort vor, aber ich weiß nicht (und kann auch mangels Kontext
nicht erraten), was gemeint ist.
Im Internet finde ich, dass es "kaufmännische Angestellte" sind
<http://134.130.170.2/pdfview/pdfview_pub.aspx?ID_0=2&ID_1=15&ID_2=794&ID_3=43780>
Im Grimmschen Wörterbuch gibt es eine "stratze, f., strazze, heft,
kladde zur vorläufigen eintragung aller rechnungsvorgänge, in der
sprache des kaufmanns. aus dem italien., wohl verkürzt aus
stracciafoglio 'kladde der geschäftsleute; unreiner entwurf einer
schrift'; dessen erster teil von stracciare 'papier zerreiszen', aus
mlat. extractiare 'herauszerren'; vgl. auch ital. straccetto sowie carta
straccia 'makulatur'. im deutschen seit dem 17. jh., anscheinend zuerst
im compos. strazzobuch: das memorial oder strazzo oder handbuch"
(Eine Suche nach "Stratzist" - darauf hat mich natürlich die Schreibung
bei Grimm gebracht - war ergebnislos.)
Als literarisches Schimpfwort würde ich Buchhalter, Tintenklekser,
verhinderter Schriftsteller, der immer nur ins Unreien schreibt, vermuten.

Strachiatella kennen wir ja als Eis mit Flecken vom Italiener und
stracciato heißt heute abgerissen, zerlumpt.

http://dict.leo.org/itde/index_de.html#/search=stracciato&searchLoc=0&resultOrder=basic&multiwordShowSingle=on

Den genauen Arbeitsvorgang in der Buchhaltung mit der Übertragung der
Umsätze aus dem Monatsheft (Kladde, Strazze) ins Kontokorrentbuch finden
wie hier

https://books.google.de/books?id=pstaAAAAcAAJ&pg=PA368&lpg=PA368&dq=comptoir+strazz&source=bl&ots=Ab1PaKu-A3&sig=mOzbuZJbQb1-L7St2YtzQqKm1M8&hl=de&sa=X&ei=fE-iVLecE4b2O737gMAC&ved=0CDMQ6AEwAA#v=onepage&q=comptoir%20strazz&f=false
--
Roland Franzius
Gunhild Simon
2014-12-30 10:32:20 UTC
Permalink
Am Dienstag, 30. Dezember 2014 08:20:28 UTC+1 schrieb Roland Franzius:

...
Post by Roland Franzius
Strachiatella kennen wir ja als Eis mit Flecken vom Italiener
Obwohl ich kein ausgewiesener Experte für Italienisch bin,
möchte ich die Rechtschreibung korrigieren:
Stracciatella, gesprochen "Stratschatella".

Diese Schreibweise verweist aber nicht wie "macchiato" beim gleichnamigen Latte macchiato auf eine "Verschmutzung"
der weißen Milch durch den darin sichtbar enthaltenen
Espresso, sondern auf
die kleinen, "abgerissenen" Schokoladenstückchen, die
allerdings heutzutage durch fertige Schokostreusel
ersetzt sind.

Setzte man jedoch ein h an die bewußte Stelle, veränderte dies
die Aussprache massiv zu *"Strakkiatella" wie bei macchiato,
gesprochen "makkiato", gut zu erkennen.
Post by Roland Franzius
stracciato heißt heute abgerissen, zerlumpt.
Gruß
Gunhild
Volker Gringmuth
2014-12-30 11:13:55 UTC
Permalink
Post by Gunhild Simon
Stracciatella, gesprochen "Stratschatella".
Nein, nein, nein. „Schtratzi-a-tella“ ist die einzig wahre Aussprache.

Und jetzt esse ich meine Gnotschis.


vG
Stephen Hust
2014-12-30 08:59:55 UTC
Permalink
Post by Christina Kunze
Was ist ein Strazzist? In einem Text aus den 40er Jahren kommt das als
Schimpfwort vor, aber ich weiß nicht (und kann auch mangels Kontext
nicht erraten), was gemeint ist.
Im Internet finde ich, dass es "kaufmännische Angestellte" sind
<http://134.130.170.2/pdfview/pdfview_pub.aspx?ID_0=2&ID_1=15&ID_2=794&ID_3=43780>
Im Grimmschen Wörterbuch gibt es eine "stratze, f., strazze, heft,
kladde zur vorläufigen eintragung aller rechnungsvorgänge [...]
(Eine Suche nach "Stratzist" - darauf hat mich natürlich die Schreibung
bei Grimm gebracht - war ergebnislos.)
Ich weiß nicht, ob es einen Zusammenhang gibt, aber nach einem Duden aus
den 1940er Jahren (das Vorwort ist von 1941 - das Buch in deutscher
Schrift gedruckt) ist /Strazza/ "Abfall [bei der Rohseidenbearbeitung]".

/Strazzensammler/ sind laut Peter Wehle ("Sprechen Sie Wienerisch?")
"Banlstierer = die Lumpensammler der Jahrhundertwende".

In noch älteren Büchern finden sich Sachen wie:

| - 294. §.478. Ad f: Hausirer, Strazzensammler und herumziehende
| Musikanten.
|
| - 294. §.479. Hausirer und Strazzensammler.
|
("System der österreichischen administrativen Polizey", Erster Band,
Erster Theil, Wien, 1829, ohne Seitennummer.)

| 216.
|
| Stempel-Behandlung der Wohlverhaltungs-Zeugnisse der Strazzensammler.
|
| Aus Anlaß einer Anfrage wird dem k. Kreisamte bekannt gegeben, daß
| die Wohlverhaltungs-Zeugnisse für Strazzensammler, welche dieselben
| zum Behufe der Erlangung von Strazzensammlungs-Pässen beibringen
| müssen, nach dem Hofkammerdekrete vom 3. September 1841 Z. 22665 dem
| Stempel von 6 Kreuzern unterliegen.
|
("Provinzial-Gesetzsammlung des Königreichs Böhmen für das Jahr 1842",
Vierundzwanzigster Band, Prag, 1843, S. 471.)

| Die Hadern werden auch aus dem alles Mögliche enthaltenden Haus- und
| Strassenkehrichts, sowie von dessen Ablagerungeplätzen von den mit
| deren Einsammeln sich beschäftigenden und unter den ärmlichsten
| Verhältnissen lebenden Individuen (Strazzensammlern) genommen und an
| ihren Wohnsitzen oder im Freien dem Gröbsten nach sortirt. Die von
| den Ablagerungsstellen des Kehrichts stammenden und meist schon in
| Fäulniss übergegangenen Hadern (Gestättenhadern) sind die
| werthlosesten, schmutzigsten und ekelhaftesten. Sie dienen nur zur
| Bereitung von Packpapieren und werden in eigentlichen Papierfabriken
| gar nicht verwendet, kommen daselbst höchstens eingeschmuggelt vor.
| Meist auch sträuben sich die Arbeiter gegen die Beschäftigung mit
| solchen Hadern. Die Strazzensammler bringen die Hadern in offenen
| Körben, Butten oder Wägelchen in die Entrepots der Haderhändler. Hier
| werden sie fast nur von weiblichen Arbeitern dem Werthe nach einer
| oberflächlichen Sortirung in 4 bis 8 Kategorien unterzogen. Dabei
| fallen schon sehr viel Mist und Schmutz heraus. Ein Reinigen oder
| Waschen der Hadern findet bei den Hadernhändlern nicht statt.
|
(Obersanitätsrath Prof. Dr. Drasche in Wien, "Ueber die
Infectionsfähigkeit der Hadern", in der Zeitschrift "Wiener Medizinische
Blätter, X. Jahrgang, Nr. 36 (?), 8. September 1887, S. 1130.)
--
Steve

My e-mail address works as is.
Jakob Achterndiek
2014-12-30 10:45:38 UTC
Permalink
Duden aus den 1940er Jahren (das Vorwort ist von 1941 - das
Buch in deutscher Schrift gedruckt
Weiß der Geier, warum das "deutsche Schrift" genannt wird:
Es ist eine zu jener Zeit international gebräuchliche und für
progressive Schrift-Unkundige noch heute leicht lesbare "Fraktur".

j/\a
--
Gunhild Simon
2014-12-30 11:23:18 UTC
Permalink
Post by Jakob Achterndiek
Duden aus den 1940er Jahren (das Vorwort ist von 1941 - das
Buch in deutscher Schrift gedruckt
Als Kind habe ich in der 3. Klasse
das Lesen und Schreiben der "deutschen Schrift" gelernt.
Vielleicht ein Relikt aus der damals noch nicht weit
entfernten Zeit des Nationalsozialismus. Die Nazis
haben die _deutsche_ Schrift wohl besonders gepflegt:
War nicht der allgegenwärtige Titel "Völkischer Beobachter"
in Fraktur?
Post by Jakob Achterndiek
Es ist eine zu jener Zeit international gebräuchliche und für
progressive Schrift-Unkundige noch heute leicht lesbare "Fraktur".
Ich kann mich daran erinnern, daß meine Kinder bei Fraktur
reagierten, als wäre es eine Art Geheimschrift und weigerten
sich, solche Texte zu lesen.

Gruß
Gunhild
Volker Gringmuth
2014-12-30 11:46:51 UTC
Permalink
Post by Gunhild Simon
Ich kann mich daran erinnern, daß meine Kinder bei Fraktur
reagierten, als wäre es eine Art Geheimschrift und weigerten
sich, solche Texte zu lesen.
Zumindest eines deiner Kinder stand aber auch mal fasziniert vor einem
in Fraktur gesetzten Faksimile aus der Gutenbergbibel, das bei mir an der
Wand hängt :-)


vG
Detlef Meißner
2014-12-30 12:11:18 UTC
Permalink
Post by Gunhild Simon
Post by Jakob Achterndiek
Duden aus den 1940er Jahren (das Vorwort ist von 1941 - das
Buch in deutscher Schrift gedruckt
Als Kind habe ich in der 3. Klasse
das Lesen und Schreiben der "deutschen Schrift" gelernt.
Das, was man gemeinhin als "Deutsche Schrift" bezeichnet, ist eine
Schreibschrift, als Kurrentschrift bezeichnet.
Eine Form davon war "Sütterlin". Möglicherweise hast du diese gelernt.
http://www.suetterlinschrift.de/Lese/Sutterlin0.htm
Post by Gunhild Simon
Vielleicht ein Relikt aus der damals noch nicht weit
entfernten Zeit des Nationalsozialismus.
Nein.
http://de.wikipedia.org/wiki/Deutsche_Schrift
Post by Gunhild Simon
Die Nazis
War nicht der allgegenwärtige Titel "Völkischer Beobachter"
in Fraktur?
Die Nazis wollten die Fraktur abschaffen (sei eine jüdische Schrift) und
haben das dann auch ab 1941 so nach und nach getan.
http://de.wikipedia.org/wiki/Deutsche_Kurrentschrift
Post by Gunhild Simon
Post by Jakob Achterndiek
Es ist eine zu jener Zeit international gebräuchliche und für
progressive Schrift-Unkundige noch heute leicht lesbare "Fraktur".
Ich kann mich daran erinnern, daß meine Kinder bei Fraktur
reagierten, als wäre es eine Art Geheimschrift und weigerten
sich, solche Texte zu lesen.
Nun, dann sollte man auch Geheimes in dieser Geheimschrift schreiben.
Kinder lernen dann ganz schnell, das Geheimnis zu lösen. ;-)

Detlef
Helmut Richter
2014-12-30 12:33:27 UTC
Permalink
Post by Detlef Meißner
Das, was man gemeinhin als "Deutsche Schrift" bezeichnet, ist eine
Schreibschrift, als Kurrentschrift bezeichnet.
Eine Form davon war "Sütterlin". Möglicherweise hast du diese gelernt.
http://www.suetterlinschrift.de/Lese/Sutterlin0.htm
Fraktur und Kurrentschrift waren aber anfangs des 20.Jh. nur noch in
Deutschland und teilweise in Dänemark in allgemeinem Gebrauch. Insofern
ist durchaus etwas Deutsches dran.
Post by Detlef Meißner
Post by Gunhild Simon
Die Nazis
War nicht der allgegenwärtige Titel "Völkischer Beobachter"
in Fraktur?
Die Nazis wollten die Fraktur abschaffen (sei eine jüdische Schrift) und
haben das dann auch ab 1941 so nach und nach getan.
http://de.wikipedia.org/wiki/Deutsche_Kurrentschrift
Manche Nazis wollten sie pflegen, Hitler selbst legte darauf keinen
Wert. Als die Schrift in den besetzten Gebieten sich als hinderlich
erwies, wurde sie kurzerhand zu einer jüdischen Schrift ernannt. Damit
war die weiterverwendung sehr wirkungsvoll unterbunden.
Post by Detlef Meißner
Nun, dann sollte man auch Geheimes in dieser Geheimschrift schreiben.
Kinder lernen dann ganz schnell, das Geheimnis zu lösen. ;-)
Ich kenne sie nur als Lutherbibeln und Karl May -- die gabs beide nur in
Fraktur.
--
Helmut Richter
Detlef Meißner
2014-12-30 12:44:40 UTC
Permalink
Post by Helmut Richter
Post by Detlef Meißner
Das, was man gemeinhin als "Deutsche Schrift" bezeichnet, ist eine
Schreibschrift, als Kurrentschrift bezeichnet.
Eine Form davon war "Sütterlin". Möglicherweise hast du diese gelernt.
http://www.suetterlinschrift.de/Lese/Sutterlin0.htm
Fraktur und Kurrentschrift waren aber anfangs des 20.Jh. nur noch in
Deutschland und teilweise in Dänemark in allgemeinem Gebrauch. Insofern
ist durchaus etwas Deutsches dran.
Kurrentschrift ja, aber Fraktur?
Post by Helmut Richter
Post by Detlef Meißner
Post by Gunhild Simon
Die Nazis
War nicht der allgegenwärtige Titel "Völkischer Beobachter"
in Fraktur?
Die Nazis wollten die Fraktur abschaffen (sei eine jüdische Schrift) und
haben das dann auch ab 1941 so nach und nach getan.
http://de.wikipedia.org/wiki/Deutsche_Kurrentschrift
Manche Nazis wollten sie pflegen, Hitler selbst legte darauf keinen
Wert. Als die Schrift in den besetzten Gebieten sich als hinderlich
erwies, wurde sie kurzerhand zu einer jüdischen Schrift ernannt. Damit
war die weiterverwendung sehr wirkungsvoll unterbunden.
Ganz so wirkungsvoll war's wohl nicht.
Post by Helmut Richter
Post by Detlef Meißner
Nun, dann sollte man auch Geheimes in dieser Geheimschrift schreiben.
Kinder lernen dann ganz schnell, das Geheimnis zu lösen. ;-)
Ich kenne sie nur als Lutherbibeln und Karl May -- die gabs beide nur in
Fraktur.
Also beides Texte, die man unbedingt lesen musste. ;-)

Detlef
Florian Ritter
2014-12-31 18:15:00 UTC
Permalink
Post by Helmut Richter
Post by Detlef Meißner
Nun, dann sollte man auch Geheimes in dieser Geheimschrift schreiben.
Kinder lernen dann ganz schnell, das Geheimnis zu lösen. ;-)
Ich kenne sie nur als Lutherbibeln und Karl May -- die gabs beide nur in
Fraktur.
Fraktur zu lesen habe ich in der 1. Klasse aus einem mir väterlicherseits
übereigneten Expl. "Der Gute Kamerad" Jg. 1928, gr. 8°, gelernt.
Unsere May-TB aus dem KMV Bamberg waren in Antiqua gesetzt - FR
Juergen Grosse
2014-12-30 12:18:39 UTC
Permalink
Am 30.12.2014 um 12:23 schrieb Gunhild Simon:


...
Vielleicht ein Relikt aus der damals noch nicht weit entfernten Zeit
des Nationalsozialismus. Die Nazis haben die_deutsche_ Schrift wohl
besonders gepflegt: War nicht der allgegenwärtige Titel "Völkischer
Beobachter" in Fraktur?
Der Titel nun gerade nicht, er war spätestens seit Mitte der Zwanziger
in Antiqua gesetzt. Was den Text betrifft, wurde der Völkische
Beobachter 1941 auf Antiqua umgestellt, als die Frakturschrift mit dem
Bormann'schen Schrifterlass <http://www.ligaturix.de/bormann.htm>
allgemein für unerwünscht erklärt wurde.

Tschüs, Jürgen
Jakob Achterndiek
2014-12-30 12:56:28 UTC
Permalink
Post by Gunhild Simon
Duden aus den 1940er Jahren (das Vorwort ist von 1941 - das
Buch in deutscher Schrift gedruckt
War nicht der allgegenwärtige Titel "Völkischer Beobachter"
in Fraktur?
In ihren frühen Jahren ja, später war der Titel im Kopf in
Antiqua-Großbuchstaben, aber der Inhalt weiterhin in einer
Fraktur gesetzt. Einen ganz informativen geschichtlichen
Überblick habe ich gefunden in: <http://tinyurl.com/pcfgv9q>¹
Auch Hitlers "Mein Kampf" war etliche Jahre in Fraktur, später
jedoch in einer Antiqua gesetzt. Beispiele haben wir vor nicht
langer Zeit hier mal vorgezeigt.
Post by Gunhild Simon
Ich kann mich daran erinnern, daß meine Kinder bei Fraktur
reagierten, als wäre es eine Art Geheimschrift und weigerten
sich, solche Texte zu lesen.
Ja, daran erinnere ich mich auch aus meiner Schulpraxis. Ich
habe das aber nicht durchgehen lassen, ebenso wenig übrigens
wie die Unkenntnis der deutschen Kurrentschrift: Wenn sie über
alte Kulturen und fremde Völker mitreden wollten (denn dazu
waren sie ja zu uns gekommen, nicht wahr?), dann sollten sie
doch, bitteschön, auch die Briefe ihrer eigenen Großeltern
noch entziffern können.

j/\a

¹
http://www.dorsten-unterm-hakenkreuz.de/2012/05/28/die-jahrelang-im-ns-reich-verwendete-gotische-fraktur-schrift-war-plotzlich-„judisch“-sie-wurde-1941-durch-die-lateinisierte-antiqua-ersetzt/
--
Martin Gerdes
2014-12-30 13:00:01 UTC
Permalink
Post by Gunhild Simon
Als Kind habe ich in der 3. Klasse
das Lesen und Schreiben der "deutschen Schrift" gelernt.
Das sollte Schreibschrift gewesen sein.
Druckschrift und Schreibschrift sind zwei Paar Stiefel.
Post by Gunhild Simon
Vielleicht ein Relikt aus der damals noch nicht weit
entfernten Zeit des Nationalsozialismus.
Nein. Allenfalls ein Relikt aus der deutschen Geschichte.
Das war unterschiedlich. Man kann gebrochene Schrift durchaus als ein
Spezifikum der deutschen Kultur sehen (siehe Schriftstreit vom Anfang
des 20. Jhds); die Nazis standen ihr aber uneinheitlich gegenüber.
Einige haben gebrochene Schriften sehr gefördert (was auch für einen
Aufschwung der Schriftgestaltung in den 30ern geführt haben mag), der
Obernazi mochte sie aber ausdrücklich nicht und hat sie anno 1941 auch
verbieten lassen (wenngleich der Frakturerlaß nicht von Hitler, sondern
von Bormann unterzeichnet ist).
Post by Gunhild Simon
War nicht der allgegenwärtige Titel "Völkischer Beobachter"
in Fraktur?
Doch, und der Erstdruck des "Kommunistischen Manifests" auch.
Post by Gunhild Simon
Post by Jakob Achterndiek
Es ist eine zu jener Zeit international gebräuchliche und für
progressive Schrift-Unkundige noch heute leicht lesbare "Fraktur".
Ich kann mich daran erinnern, daß meine Kinder bei Fraktur
reagierten, als wäre es eine Art Geheimschrift und weigerten
sich, solche Texte zu lesen.
Kinder werden gemeinhin von Geheimschriften eher angezogen als
abgeschreckt.

Ich kann mich dran erinnern, daß ich als Drittkläßler Fraktur ohne
spezielle Unterweisung einfach so lesen konnte (allerdings mußte man mir
sagen, welchen Zweck dieses komische Spazierstöckchen hat). Heute ist
die Fehlauffassung so verbreitet, Fraktur sei per se Nazischrift, daß
die Leute die Schrift aus diesem Grund nicht lesen können wollen.
Detlef Meißner
2014-12-30 13:34:28 UTC
Permalink
... Heute ist
die Fehlauffassung so verbreitet, Fraktur sei per se Nazischrift, daß
die Leute die Schrift aus diesem Grund nicht lesen können wollen.
Einfach nur sagen, das sei Gothic.

Detlef
Christina Kunze
2015-01-02 07:09:21 UTC
Permalink
Post by Gunhild Simon
Ich kann mich daran erinnern, daß meine Kinder bei Fraktur
reagierten, als wäre es eine Art Geheimschrift und weigerten
sich, solche Texte zu lesen.
Liegt das nicht daran, wie ihnen diese Schrift nahegebracht wird?
Meine Kinder reagierten auch durchweg, als wäre das eine Art
Geheimschrift - die sie unbedingt lesen lernen wollten. Zwei von ihnen
schreiben sie auch nach, mit der Bandzugfeder (eins schreibt auch
Kurrent mit normalen Stiften).

chr
Bernd
2014-12-30 13:15:18 UTC
Permalink
Heute kommt sie noch vor in Zeitungsköpfen (auch internationalen!
"Herald Tribune"), Bierflaschenetiketten, Wirtshausschildern und
englischen Weihnachtskarten.
In Fr. z.B., wenn man etwas "gotisch" aussehen lassen will.
Siehe Asterix und den Goten. ;-)
--
A+
--
Romer
Bernd
2014-12-30 13:19:01 UTC
Permalink
Post by Bernd
Heute kommt sie noch vor in Zeitungsköpfen (auch internationalen!
"Herald Tribune"), Bierflaschenetiketten, Wirtshausschildern und
englischen Weihnachtskarten.
In Fr. z.B., wenn man etwas "gotisch" aussehen lassen will.
Siehe Asterix und den Goten. ;-)
und die Goten.
Deutsche Schrift in der frz. Version, wenn die Goten sprechen - in der
deutschen V. weiss ich nicht, ob diese Schrift verwendet wird.
--
A+
--
Romer
Christina Kunze
2015-01-02 07:12:42 UTC
Permalink
Post by Bernd
Post by Bernd
Heute kommt sie noch vor in Zeitungsköpfen (auch internationalen!
"Herald Tribune"), Bierflaschenetiketten, Wirtshausschildern und
englischen Weihnachtskarten.
In Fr. z.B., wenn man etwas "gotisch" aussehen lassen will.
Siehe Asterix und den Goten. ;-)
und die Goten.
Deutsche Schrift in der frz. Version, wenn die Goten sprechen - in der
deutschen V. weiss ich nicht, ob diese Schrift verwendet wird.
Dochdoch, auch in der deutschen. Damit habe ich bei einem meiner Kinder
getestet, ob das Lesen der Frakturschrift auch ohne Vorbereitung
funktiniert. Es hat. Außer natürlich das komische Spazierstöcken, wie
Martin schon schrieb.

chr

Detlef Meißner
2014-12-30 13:38:47 UTC
Permalink
Post by Bernd
Heute kommt sie noch vor in Zeitungsköpfen (auch internationalen!
"Herald Tribune"), Bierflaschenetiketten, Wirtshausschildern und
englischen Weihnachtskarten.
In Fr. z.B., wenn man etwas "gotisch" aussehen lassen will.
Siehe Asterix und den Goten. ;-)
Motörhead

Detlef
Martin Gerdes
2014-12-30 23:00:50 UTC
Permalink
Post by Bernd
Heute kommt sie noch vor in Zeitungsköpfen (auch internationalen!
"Herald Tribune"), Bierflaschenetiketten, Wirtshausschildern und
englischen Weihnachtskarten.
In Fr. z.B., wenn man etwas "gotisch" aussehen lassen will.
Siehe Asterix und den Goten. ;-)
An sich ist das erstaunlich, Bernard. Gotische Baukunst und gotische
Schrift sind in Frankreich entwickelt worden.
Bernd
2014-12-31 10:30:58 UTC
Permalink
Post by Martin Gerdes
Post by Bernd
In Fr. z.B., wenn man etwas "gotisch" aussehen lassen will.
Siehe Asterix und den Goten. ;-)
An sich ist das erstaunlich, Bernard. Gotische Baukunst und gotische
Schrift sind in Frankreich entwickelt worden.
Du hast recht, was die Baukunst und die Subkultur (Gothic-Kultur)
angeht. In diesem Fall schreibt man normalerweise gothique. Gotique
(ohne h) ist die Sprache der Goten. Ich hatte nur die Sprache im Sinne.
--
A+
--
Romer
Martin Gerdes
2014-12-31 20:00:04 UTC
Permalink
Post by Bernd
Post by Martin Gerdes
Post by Bernd
In Fr. z.B., wenn man etwas "gotisch" aussehen lassen will.
Siehe Asterix und den Goten. ;-)
An sich ist das erstaunlich, Bernard. Gotische Baukunst und gotische
Schrift sind in Frankreich entwickelt worden.
Du hast recht, was die Baukunst und die Subkultur (Gothic-Kultur)
angeht. In diesem Fall schreibt man normalerweise gothique. Gotique
(ohne h) ist die Sprache der Goten. Ich hatte nur die Sprache im Sinne.
Das ändert nichts daran, daß die gotische Schrift in Frankreich
entstanden ist (zu einem Zeitpunkt, zu dem die Goten längst Geschichte
waren).
Volker Gringmuth
2014-12-30 13:19:12 UTC
Permalink
Heute kommt sie noch vor in Zeitungsköpfen (auch internationalen!
"Herald Tribune"), Bierflaschenetiketten, Wirtshausschildern und
englischen Weihnachtskarten.
Am Wirtſhauſ aber entweder mit falschem Lang-ſ oder mit falschem Rund-s
(„Zur Post“). WIMRE habe ich sogar mal ein „Gasthauſ“ gesichtet. O Grauſ!

Und als ich des langen ſ noch nicht mächtig war, erklärte ich mir den Namen
eines hannöverschen Bieres dahingehend, daß sich dort, wo das ausgeschenkt
wird, die Herren häufen.


vG
Stephen Hust
2014-12-31 15:59:47 UTC
Permalink
Duden aus den 1940er Jahren (das Vorwort ist von 1941 - das
Buch in deutscher Schrift gedruckt
In diesem Fall wurde die Schrift so genannt, weil mir "Fraktur" nicht
eingefallen ist.
--
Steve

My e-mail address works as is.
Gunhild Simon
2014-12-31 17:49:20 UTC
Permalink
Post by Stephen Hust
Duden aus den 1940er Jahren (das Vorwort ist von 1941 - das
Buch in deutscher Schrift gedruckt
In diesem Fall wurde die Schrift so genannt, weil mir "Fraktur" nicht
eingefallen ist.
Das verstehe ich gut.

Zu den Zeiten, als ich sie lesen lernte,
ebenfalls in gebundener Schrift schreiben
lernte, nannte die Lehrerin dies deutsche Schrift.

Daraus resultiert auch,
was Martin kritisch anmerkte:

Ich kenne den Unterschied schon, dennoch war der
Name, unter dem mir beide Schriften nahegebracht
wurden, *deutsche Schrift* im Gegensatz zu
lateinischer, also Druckschrift und
Schreibschrift.

Gruß
Gunhild
Detlef Meißner
2014-12-31 18:04:04 UTC
Permalink
Post by Gunhild Simon
Post by Stephen Hust
In diesem Fall wurde die Schrift so genannt, weil mir "Fraktur" nicht
eingefallen ist.
Das verstehe ich gut.
Zu den Zeiten, als ich sie lesen lernte,
ebenfalls in gebundener Schrift schreiben
lernte, nannte die Lehrerin dies deutsche Schrift.
Muss aber eine alte Lehrerin gewesen sein!

Detlef
Martin Gerdes
2014-12-31 20:00:05 UTC
Permalink
Post by Gunhild Simon
Post by Stephen Hust
Duden aus den 1940er Jahren (das Vorwort ist von 1941 - das
Buch in deutscher Schrift gedruckt
In diesem Fall wurde die Schrift so genannt, weil mir "Fraktur" nicht
eingefallen ist.
Zu den Zeiten, als ich sie lesen lernte,
ebenfalls in gebundener Schrift schreiben
lernte, nannte die Lehrerin dies deutsche Schrift.
Das war die allgemein übliche Bezeichnung, sowohl für die Druckschrift
(Fraktur) als auch für die Schreibschrift (Kurrentschrift).
Post by Gunhild Simon
Ich kenne den Unterschied schon, dennoch war der
Name, unter dem mir beide Schriften nahegebracht
wurden, *deutsche Schrift* im Gegensatz zu
lateinischer, also Druckschrift und
Schreibschrift.
In meiner Kinderzeit hat meine Mutter ihre Notizen in deutscher Schrift
verfaßt (von der Form her sehr nah an der Sütterlin, runde
Frauenschrift). Ich konnte das nicht lesen und fragte sie, was das für
eine Schrift sei. Das sei "deutsche Schrift", antwortete sie, was mich
verwunderte, weil ich doch wohl dachte, daß ich deutsch schriebe. Nein,
sagte sie zu meiner noch größeren Verwunderung, ich schriebe lateinisch.

Lateinisch? Ich als Grundschüler? Das konnte ja wohl nicht sein. Und
doch war es natürlich so.
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