Post by Heinz Lohmann"Angesprochen auf sinkende Umfrageergebnisse sagte Schulz, es habe in
den Monaten nach seiner Ernennung zum Kanzlerkandidaten einen Aufstieg
in den Umfragen gegeben, den er in dieser Form auch nicht erwartet
gehabt habe."
Es kann durchaus zwei Partizipien in einem Verbalzusammenhang geben:
Nehmen wir den Satz
Ich bin tot.
"tot" könnte man hier auch durch das mehr oder weniger synonyme
"getötet" ersetzen. Nimmt man es als Adjektiv, so ließen sich die
Zeitformen wie folgt durchgehen:
Ich bin tot = Ich bin getötet.
Ich war tot = Ich war getötet.
Ich bin tot gewesen = Ich bin getötet gewesen.
Ich war tot gewesen = Ich war getötet gewesen.
Ich werde tot sein = Ich werde getötet sein.
Ich werde tot gewesen sein = Ich werde getötet gewesen sein.
Nun ist "getötet" aber natürlich eigentlich kein Adjektiv, sondern ein
Partizip II. Insbesondere wird "Ich bin getötet" auch als Zustandspassiv
bezeichnet. Damit wird betont, dass das tot-sein das Ergebnis einer
Tötungshandlung ist. Es lässt auch die Nennung eines Agens zu, während
das bei der Adjektiv-Variante nur durch vage instrumentale Angabe
möglich ist: "Ich bin von dir getötet" vs. "Ich bin durch dich tot" (Ist
der Angesprochene jetzt Täter oder nur irgendwie kausal verwickelt?
Selbst bei "Ich bin von dir schwanger" würde ich den von-Teil mehr
separativ deuten statt als echtes Agens). Bei anderen Verben klingt das
etwas sinniger, z.B. "Ich bin von dir überrascht."
Ursprünglich scheint das Perfekt diesen resultativen Aspekt aber schon
an sich zu haben. Der ist dann aber vor allem nur noch regularisiert
erhalten. Gerade dadurch ist vielleicht das Gefühl für ihn verloren
gegangen, es wurde nur noch der Ausdruck der Handlung wahrgenommen und
das Perfekt konnte sich in der Umgangssprache als
Standard-Vergangenheitsform durchsetzen, wo hochsprachlich das
Präteritum angezeigt wäre. Vielleicht konnte dann das Zustandspassiv als
Ersatz dafür entstanden.
Jedenfalls, "Ich bin getötet gewesen" besagt also: Ich war tot, das hat
Bedeutung für die Gegenwart (Perfekt: Ich bin gewesen) und es war das
Ergebnis einer Handlung (Partizip: getötet).
Ich bin aber zugegebenermaßen nicht darüber im Bilde, wie das deutsche
Perfekt eigentlich entstanden ist, und kann nur Parallelen zum
Alt-Griechischen und Englischen ziehen, wo der resultative Charakter in
Reinform erhalten ist, und zum Lateinischen, wo er sich das Perfekt
(nicht ganz) wie im Deutschen mit anderen Verwendungsweisen teilt und
oft in den Hintergrund tritt.
Kurios ist dann auch das deutsche Perfekt Aktiv, weil es mit dem
Partizip II gebildet wird, das eigentlich etwas Passivisches in sich zu
enthalten scheint. Ich vermute daher, dass es ursprünglich als
Objektsprädikativ verwendet wurde:
Ich habe dich getötet = Ich habe dich, und zwar getötet. = Ich habe dich
als einen [von mir] Getöteten.
"haben" rückt hier von der Bedeutung des Besitzes ab (die ohnehin
vermutlich nie die alleinige war) und drückt mehr eine assymmetrische
Relation aus, eine gewisse Verfügung über jemanden oder etwas.
Diese Erklärung funktioniert jedoch nur für transitive Verben.
In "Ich habe gelacht" lässt sich das Partizip allenfalls unpersönlich
passivisch und nur schwer als Objektsprädikativ deuten.
Ich habe gelacht = Es wurde von mir gelacht.
Ich habe gelacht = Ich habe es(?!) als etwas Gelachtes.
Klingt völlig abgedreht.
Vielleicht ist das Perfekt für intransitive Verben in Analogiebildung
entstanden, vielleicht war das Partizip II ursprünglich medial oder gar
diathetisch unberührt, vielleicht ist die Erklärung doch eine andere.
Ich folge ihr jetzt trotzdem.
Während sich mit dem Zustandspassiv eine eigene, besondere
Ausdrucksweise für das resultative Perfekt Passiv ausgebildet hat, ist
dies beim Perfekt Aktiv nicht der Fall:
Du bist von mir getötet worden. <=> Ich habe dich getötet.
Du bist von mir getötet <=> ebenfalls Ich habe dich getötet.
In diese Lücke könnte nun das doppelte Perfekt springen, das im Übrigen
auch nur im Aktiv zu existieren scheint (und bei Verben, die das Perfekt
mit "haben" bilden) - eine Art Zustandsaktiv:
Ich habe dich als einen Getöteten gehabt => Ich habe dich getötet gehabt.
Also eigentlich Perfekt Aktiv von "haben" mit Partizip II als
Objektsprädikativ.
"Ich habe dich getötet gehabt" bedeutet also: Du warst tot, das hat
Bedeutung für die Gegenwart (Perfekt), es war das Ergebnis (m)einer
Handlung (Partizip), und der Sachverhalt wird aus meiner Sicht mit mir
als Agens ausgedrückt (Aktiv).
Ich habe es vollgebracht gehabt, dass du tot bist.
Der Teil mit der Bedeutung für die Gegenwart kann für die Umgangssprache
natürlich wieder unter den Tisch fallen. Andererseits: Natürlich hat
alles, wovon man erzählt, doch irgendwie Bedeutung für die Gegenwart -
sonst würde man ja gerade nicht davon erzählen ...
Das bedeutet also: Das doppelte Perfekt tritt dann ein, wenn eigentlich
echte Perfektformen gemeint sind (und theoretisch auch genügen könnten),
insbesondere aber auch dann, wenn das Präteritum hochsprachlich richtig
wäre.
So entspricht es auch meiner Erfahrung. Noch mehr denke ich aber, dass
hierbei unbewusste Analogiebildungungen und Sprachrhythmik eine Rolle
spielen, die sich grammatikalisch schlicht nicht fassen lassen. Zudem
zeigt jede Sprache immer Abnutzungserscheinungen, stärkere Begriffe
verdrängen schwächere. Vielleicht ist da ja bei Grammatik genauso: Das
Perfekt ist umgangssprachlich so dauerpräsent, dass es schon wieder
abgenudelt ist und das doppelte Perfekt her muss.
Um zum OP zurückzukehren - setzen wir das Zitat der Einfachheit halber
in die direkte Rede:
"Ich habe es nicht erwartet gehabt". Einige meinen nun, dass hier
eigentlich das Plusquamperfekt richtig wäre und auch MUSE würde es
setzen. Doch warum eigentlich? Antwort: Weil hier etwas gedanklich
ergänzt wird, was nicht steht, aber der Logik/Erfahrung entspricht, nämlich:
Eigentlich sagt der Satz nach obiger Logik: Es wurde (von mir) erwartet,
das hat Bedeutung für die Gegenwart, der Sachverhalt wird aus meiner
Sicht ausgedrückt. (Da intransitiv, ist das aber zugegebenermaßen
schwerlich als Zustand zu fassen; man müsste hier wohl doch genauer
unterschiedliche Verbarten betrachten.)
Bedeutung für die Gegenwart hat es nun deshalb, weil inzwischen durch
einen Realitätsabgleich festgestellt wurde, dass die Erwartung nicht
richtig war und es nun das Mitteilungsbedrüfnis gibt. Die Erwartung ist
hier vorzeitig zur imaginisierten, aus der Logik erschließbaren
Feststellung, welche sich zum Redezeitpunkt in der Vergangenheit
befindet, und damit im Plusquamperfekt auszudrücken.
Ähnlich ließen sich auch in anderen Situationen Ereignisse vorstellen,
die eine vollzogene Handlung (bzw. ihr Resultat, soweit sich das eben
sinnvoll sagen lässt) als relevant für die Gegenwart erscheinen lassen
(doppeltes Perfekt als Zustandsaktiv), wo die Standardgrammatik aber die
Vorzeitigkeit der vollzogenen Handlung zu jenem mitunter unausgedrückten
Ereignis sieht (Plusquamperfekt).
So, jetzt habe ich aber eine Menge zusammengeschrieben. Mal sehen, wie
viel ich davon morgen noch für sinnvoll halten werde ...
Tobias