Post by Jakob Achterndiek[..] Aber im Großen und Ganzen halte ich das [..] für - sorry -
sone Art Hokuspokus auf gehobenem Niveau. [..]
Ich habe dir schon bei früherer Gelegenheit die folgende Antwort
gegeben
... zu der ich ein paar Überlegungen meinerseits zurückmelden möchte.
Post by Jakob Achterndiek... Sie benennt
jedenfalls, warum wir uns nicht werden einigen können
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Zur Sache selbst: Grammatik ist eine ideologie-fixierte Wissenschaft.
Nein. Grammatik ist eine empirische Wissenschaft. Sie geht von realen
sprachlichen Manifestationen aus und versucht, diese zu beschreiben
und zu erklären. Wahrscheinlich trennen sich bereits hier unsere Wege,
da für Dich der Gesichtspunkt der Bewertung von Anfang an die Marsch-
richtung vorgibt, wohingegen die grammatische Wissenschaft erst einmal
versucht, das Vorgefundene zu analysieren.
Post by Jakob AchterndiekAlle ihre Klassifizierungen verlangen eine Vor-Entscheidung - oder
wenigstens eine Reflexion - über die Maßstäbe, nach denen das zu
geschehen habe. Zwei einander entgegenstehende Maßstäbe sind dabei
die Berufung entweder auf die Masse der "Sprach-User" oder auf die
Texte namhafter Schriftsteller.
Du meinst, dass man einer Grammatik verschiedene Korpora zugrundelegen
kann.
Post by Jakob AchterndiekWelchem der Maßstäbe ich folgen will,
ist eine Geschmacks- und Gewissensentscheidung.
Wenn man es so angeht, leider ja. Sich über geschmackliche Beurteilungen
auffindbarer Äußerungen auseinanderzusetzen ist so ungefähr das Gegenteil
von Grammatik. So weit sind wir hier noch nicht, vorerst geht es noch um
die Festlegung des Korpus. Eine Einengung auf die "Texte namhafter
Schriftsteller" halte ich vielen Gründen für illegitim.
Wer bestimmt, ab wann ein Schriftsteller 'namhaft' ist? Wird es darüber
Konsens geben? Schreiben nicht auch weniger namhafte Schriftsteller
zuweilen gute Texte? Was ist mit der Masse gut schreibender Journalisten,
die müssen alle draußen bleiben? Und wieso vor allem soll die Grammatik
einer Sprache sich nur auf einen Teil ihrer schriftlichen Zeugnisse
beziehen und nicht auch die gesprochene Sprache behandeln?
Ein weiteres substantielles Argument wäre: Auch namhafte Schriftsteller
machen Fehler, gebrauchen nicht-standardsprachliche Beugungsformen,
Wörter und Formulierungen, stellen Bezüge missverständlich dar, haben
mal 'einen schlechten Tag' und es misslingt ihnen was. Es muss also doch
noch einmal feiner gesiebt werden, auch hier ist die Spreu vom Weizen zu
trennen, wenn auch weniger Spreu zusammenkommen mag als im Sprachgetümmel
der freien Wildbahn. Es ist also nichts gewonnen hinsichtlich der Frage:
Woher weiß der Grammatiker, dass eine sprachliche Äußerung okay ist und
er sie in seinem Korpus behalten darf?
_Meine_ Ausgangsfrage wäre eher, wozu man Grammatik betreibt. Da gibt es
etliche Möglichkeiten: Unterstützung des Lernens einer Sprache, die
Bewertung der Sprachrichtigkeit von sprachlichen Strukturen auf der Grund-
lage von Kriterien, welche die Grammatik erarbeitet hat. Hinzu kämen:
Unterstützung beim Übersetzen, bei der Sprachheilkunde, als Grundlagen-
wissenschaft für eine Reihe technischer Verfahren: OCR, automatisiertes
Erstellen von Abstracts, Bereitstellung der Strukturen für automatische
Übersetzung, automatische Spracherkennnung, KI usw. Weitere alltagsprak-
tische Umsetzungen sind denkbar: Hilfe beim Formulieren, beim Erstellen
schriftlicher Texte, Bereitstellung von Formulierungsalternativen,
Zuordnung bestimmter sprachlicher Erscheinungen zu sozialen Gruppen,
nicht zuletzt: Hilfe beim Verstehen …
Aufgrund der Eigenheiten ihres Untersuchungsgegenstands ist Grammatik
als Tätigkeit im Normalfall nicht anwendungsbezogen. Das Kerngeschäft
ist in der Tat das Herausarbeiten der grammatischen Strukturen einer
authentischen Sprache. Dabei dürfte gelten:
Die Grammatik einer Sprache im Sinne der dieser Sprache zugrundeliegenden
Regelsysteme ist umso besser, je erklärungsmächtiger sie ist. Eine
Grammatik, welche die Struktur nur weniger Sätze zu erklären in der Lage
ist und sehr viele andere, die nachweislich in großer Zahl vorkommen, als
'schlechtes Deutsch', 'idiomatisch', 'nicht analysierbar' usw. aussondern
muss, ist schlechter als eine Grammatik, die eine große Zahl vorkommender
Sätze in ihre Regelsysteme integrieren kann.
Post by Jakob AchterndiekDabei können sich unter den Grammatikern wie unter den Nur-Sprechern
sozusagen Sprachparteien bilden. Innerhalb jeder dieser Parteien lassen
sich die vorweg getroffenen Setzungen als Gesetze formulieren.
Denkfehler: In der Grammatik werden nicht Vorentscheidungen zu Gesetzen
erhoben. Dann ließen sich für eine Sprache beliebig viele Nonsense-Gramma-
tiken konstruieren. Es könnte etwa eine Grammatik entstehen, welche die
Regelhaftigkeit und sekundär auch die Qualität von Sätzen daran bemisst,
wie oft der Buchstabe 'e' in ihnen vorkommt - eine wenig erfolgversprechen-
de, aber denkbare Vorentscheidung. Auf wissenschaftlicher Ebene wäre jeder
nach sonst üblichen Maßstäben wohlgeformte Satz ohne 'e' eine Falsifikation
dieser Grammatik.
Die 'Gesetze' einer Grammatik sind die aus den beobachteten und zugrunde-
gelegten Äußerungen abgeleiteten Regularitäten. Diese sind ursprünglich
deskriptiv und können anschließen normativ in Stellung gebracht werden.
Die naive Vorstellung der meisten Sprachteilnehmer ist, Grammatik könne
immer eine eindeutige Antwort auf die Richtig-Falsch-Frage geben. Anrufer
bei den Sprachberatungsstellen sind oft enttäuscht, wenn diese eindeutige
Antwort nicht zu erhalten ist.
Der Rest hier ist unmaßgebliche Polemik und ein bisschen Comedy. Die
entscheidende Frage ist: Inwieweit ist auch für den traditionellen
Grammatiker das Grammatisieren empirisch? Alles weitere hier sind
Vermischungen unverstandener Voreinstellungen aus normativer Ausgangs-
position mit entsprechend unfruchtbaren Umsetzungen in einen pseudo-
grammatischen Diskurs, der, soweit richtig, zu nichts führt.
Balsamico ist immer willkommen, aber irgendwo muss man auch mal
aufhören, sich mit dem Zeug aus der Wasserpistole zu bespritzen und
sich in Ruhe klarmachen, was man hier eigentlich tut.
Gruß von: Ralf Joerres