Post by Stefan RamPost by Ralf JoerresEine gute Grammatik
Was wird jetzt wohl kommen?
kann »Nimm meinen.« so erklären, wie es dasteht.
Sie weist »Nimm«, »meinen« und ».« grammatische Kategorien zu
... über die sich Generationen von Grammatikern in den Haaren gelegen
haben und liegen, und wenn man zu einer von ihnen greift, 'erklärt' man
den Satz so, wie er dasteht? Echt jetzt?
Die Sprache ist, was Muttersprachler sagen (wobei man noch
gewisse Freiheiten hat, was man als "pathologisch" aus
seinem Korpus ausschließen will).
Eine Grammatik ist ein daraus gewonnenes Regelsystem,
das kürzer sein sollte als einfach nur die Auflistung all
dessen, was Muttersprachler je gesagt haben. Es gibt viele
verschiedene mögliche Grammatiken zu einer Sprache.
Ein Grammatik soll die Frage beantworten: "Würde ein
Muttersprachler¹ das so sagen?". Darüber kann man vor allem
streiten. Die Zuweisung von Kategorien ist doch nur ein
Werkzeug zu diesem Zweck, das von unterschiedlichen
Grammatiken unterschiedlich aufgebaut werden kann.
Ich würde dem im Ansatz folgen.
Wenn ich recht verstehe, wäre *eine* denkbare Weise, Grammatik zu
betreiben, die Entwicklung eines Regelapparats, der hineingefütterte
Sätze grob gesagt zutreffenderweise in 'richtige' und 'falsche'
sortiert. Die zu diesem Zweck konstruierten Begrifflichkeiten sollen vor
allem im Ergebnis funktionieren.
Vorliegende Grammatiken unterscheiden sich nach meinem Verständnis von
einem solchen Ansatz vor allem dadurch, dass sie _erklären_ wollen, wie
Sprache funktioniert. Die dabei entwickelten Begriffe wollen
weitreichend (erklärungsmächtig) sein. Es wäre schon mal gut, wenn man
ein Nomen zuverlässig definieren könnte, aber es stellt sich heraus,
dass man die einmal gefundenen Nomen weiter unterteilen muss, um besser
erklären zu können, z.B. in 'zählbare' und 'nicht-zählbare', in
'abstrakt' und 'konkret', in Eigennamen und Gattungsnamen und in viele
weitere Untergruppen. Diese Kategorien werden mit Hilfe von Modellen
entwickelt, die der menschlichen Intuition zugänglich sind. Dadurch sind
sie möglicherweise weniger maschinengerecht, aber man kann so besser
damit und darüber kommunizieren. Und es soll im Ergebnis alles
zusammenpassen, es sollen sich nicht zu viele Widersprüche ergeben, das
ganze Beschreibungssystem soll in sich konsistent sein.
Post by Stefan RamDaher sollte man nicht über die "Richtigkeit" von Kategorien
streiten
Das wird sich nicht vermeiden lassen: Welche Nomen-Definition sortiert
aus vorliegenden Texten die Nomen zuverlässiger aus, welche Aussagen
über das Funktionieren von Nomen in Sätzen treffen überhaupt zu, und
gerate ich durch konkurrierende Begriffe wie die Definitionen der
anderen Wortarten nicht in Widersprüche? Und angesichts der Diskussionen
über Groß- und Kleinschreibung oder anhand von Sätzen wie 'Ein Nein ist
ein Nein' sieht man, dass die Konstruktion der Kategorie 'Nomen' nicht
trivial ist.
Post by Stefan Ramsondern darüber, ob eine Grammatik insgesamt
möglichst viele Äußerungen, die Muttersprachler¹ als korrekt
ansehen, ebenfalls als korrekt ansieht, und möglichst viele
Äußerungen, die Muttersprachler¹ als falsch ansehen,
ebenfalls als falsch ansieht. (¹: "Muttersprachler" sind
hier dann im wesentlichen die Autoren der Grammatik.)
Für mich gibt es nicht "die Grammatik" des Deutschen;
eine Grammatik ist für mich ein konkreter Text, der von
einem konkreten Autor geschrieben wurde.
Post by Ralf Joerresund gibt Regeln an, welche jene spezielle Kombination »Nimm
meinen.« erlauben und ihr einen Sinn geben. Eine Grammatik,
die das nicht kann, ist nicht vollständig.
Ich muss gestehen, ich bin verwirrt.
Ein gute Grammatik ist so genau, daß sie verwendet werden
kann, um ein Computerprogramm zu schreiben, das einen Text
entgegennimmt, und dann entweder ausgibt "Deutsch" oder
"kein Deutsch", und dies möglichst oft mit der Einschätzung
von Muttersprachlern (dem Autor der Grammatik) übereinstimmt.
Das ist *eine*, allerdings gangbare und interessante Möglichkeit. Es
gibt weitere gute Grammatiken, wenn man 'Grammatik' nicht willkürlich
auf Computerisierbarkeit einengen will.
Post by Stefan RamIch will eine Grammatik, die bei der Umsetzung als
Computerprogramm für die Eingabe
Nimm meinen!
ausgibt
Deutsch
und dann bestenfalls noch mit Kategorien und Kombinations-
"Nimm": Imperativ Singular des Transitiv-Verbs "nehmen".
"meinen": Akkusativ-Demonstrativpronomen.
Demonstrativpronomen? Das wäre 'Nimm den da' + mit Finger drauf zeigen.
Post by Stefan RamRegel: Verbalphrase >
Transitiv-Imperativform + Akkusativ-Nominalphrase
Transitiv-Imperativform "Nimm"
Akkusativ-Nominalphrase "meinen"
Regel: Akkusativ-Nominalphrase > Akkusativ-Pronomen
Regel: Akkusativ-Pronomen > Akkusativ-Demonstrativpronoment
Regel: Akkusativ-Demonstrativpronomen >> "meinen"
Regel: Satz > Verbalphrase + Endzeichen
Verbalphrase > "Nimm meinen"
Endzeichen >> "."
Die Grammatik soll also Regeln enthalten, die "Nimm meinen!"
bereits so, wie es dasteht, als Deutsch erkennen, nicht als
etwas, das erst noch einer Ergänzung bedarf, um Deutsch zu sein.
Da scheinen mir Probleme zu liegen - wenn man bis dahin mitgegangen ist.
Das Sätzchen soll nicht nur 'Deutsch' (= richtig) sein, sondern auch
verständlich. Eine erste 'Ergänzung' wäre, dass das Pronomen 'meinen'
sprecherbezogen ist. Eine weitere, dass es sich auf eine vorgängige
Äußerung beziehen muss, um korrekt zu sein, und dass der Inhalt von
'meinen' in diesem Satz nur mit Hilfe des Vorgängersatzes zu erfassen
ist. Eine weitere, dass aus dem Repertoire der Möglichkeiten, um die
Sprechhandlung 'Einladung' in diesem Kontext vorzunehmen ('hier!' +
Schlüssel hinhalten, 'nimm doch einfach meinen', 'du kannst gerne meinen
nehmen', 'warum nimmst du nicht meinen?', 'willst du meinen haben?'...)
eine bestimmte ausgewählt wurde, die hinsichtlich 'Höflichkeit',
'Freundlichkeit', 'Nachdrücklichkeit', man könnte auch sagen:
hinsichtlich der beteiligten Gefühle der einladenden Person in
bestimmter Weise beeinflusst und dadurch in breitem Rahmen
interpretationsfähig ist.
Post by Stefan Ram(Denn dann müßte - da die Ergänzung hier fehlt - ja erscheinen
"kein Deutsch").
Ja, ich würde "meinen" in diesem Fall als
Demonstrativpronomen ansehen, aber entscheidend ist,
ob am Ende rauskommt "Deutsch" oder "kein Deutsch".
Wie so eine maschinelle Analyse etwas realistischer (unter
Berücksichtigung der Mehrdeutigkeit der Kategorisierung
einer Wortform) und im Detail aussehen kann, findest Du
beispielsweise in [Hausser86].
[Hausser86]
Lecture Notes in Computer Science Vol.231
NEWCAT, Parsing Natural Language Using Left-Associative Grammar
Roland Hausser
ISBN: 3-540-16781-1; Springer; 1986; Berlin, New York
Okay, ich weiß jetzt, was Du Dir unter einer 'guten Grammatik'
vorstellst. Der Ansatz ist wie gesagt interessant, aber in der Umsetzung
sehr technisch und daher wenig einladend, um darüber zu kommunizieren,
was einerseits schade ist. Andererseits bleibt einem
Durchschnittsmenschen damit wie in vielen anderen Lebensbereichen wenig
anderes übrig, als zur Kenntnis zu nehmen, dass die Computerlinguistik
ein ingenieurhaftes Eigenleben führt, das wenig zugänglich ist, jedoch
bereits eine Vielzahl von Produkten bis hin zu Siri hervorgebracht hat,
die via Computer, Internet und Smartphone tief in unseren Alltag
eingedrungen sind und von denen wir zunehmend abhängiger werden, ohne
doch im Mindesten mitreden zu können. Ärzte bemühen sich ja inzwischen
dem Anspruch nach, sich ihren Patienten ein wenig verständlich zu
machen. Vielleicht wird die Computerlinguistik sich auch einmal dazu
herablassen.
Gruß Ralf Joerres