Post by Jakob Achterndiek[..] Wann eine maßgebliche Anzahl der 'Sprachteilnehmer'
aufhört, ein Akkusativobjekt als Akkusativobjekt zu empfinden
und sie ins Verb aufnimmt, ist nicht vorauszusehen. [..]
Jemand "empfindet" ein Objekt als Objekt. Sind das dann (weil man
das im Satz abzählen kann) schon zwei Objekte? Ein reales und ein
empfundenes? Nimmt er deshalb, der jemand, auch beide, also _sie_,
ins Verb auf? Müßte dann aus dem "Rad fahren" nicht eigentlich ein
"radradfahren" werden?
Solcherlei Fliegenbeinzählerei kann zuweilen das Problem erhellen, hier
scheint mir das nicht der Fall zu sein. Wo Du das zweite Objekt hernimmst,
bleibt Dein Geheimnis, es ist nur von einem Objekt die Rede. Sollte wohl
ein Kalauer sein.
Post by Jakob AchterndiekWeniger kleinkariert und schon eher an Grundsätze der Sprachwissen-
Wie gründlich muß man seine Sprache gelernt haben, wie vollkommen
muß man sie in Theorie und Praxis beherrschen, um ein Objekt als
Objekt "empfinden" zu können? Normal (und so auch bei mir und
allen, die ich kenne) ist doch, daß Satzanalyse ein bewußter
Vorgang ist
Eben nicht. Ein Kind lernt irgendwann den Unterschied zwischen 'das ist
ein Hund' und 'wir haben einen Hund', das heißt es macht einen kategorialen
Unterschied, ohne zu wissen, was es da tut, das passiert vollkommen
unbewusst.
Post by Jakob Achterndiekaus dem nach längerer Zeit intensiver Übung allen-
falls eine Fähigkeit zu unterschwellige Muster-Erkennung folgen
kann. "Unterschwellig" sagt aber, daß nicht ein Unter_gefühl_,
sondern ein Unter_bewußtsein_ am Werk ist. Nebenbei: Die Praxis
der Rechtschreibung entspricht dem.
Der langen Rede kurzer Sinn: Verlaß dich nie auf "Sprachgefühl"!
Sondern formuliere deine Überlegungen so, daß sie zu _retionaler_
Mitarbeit auf der Grundlage von Kenntnissen und Überlegungen
anregen, statt zu MUSEN und DUSEN.
Ich gehöre hier nicht zu den MUSElerN und DUSELerN. Dennoch gilt für mich:
Es gibt sowas wie grammatische Intuitionen. So werden bei Überlegungen
zur Wortartzugehörigkeit viele eine dumpfe Ahnung davon haben, dass
'vielleicht' im Satz 'ich komme vielleicht' eine andere Kategorie von
Wort ist als in 'du bist mir vielleicht ein Herzchen!' Man kann dann richtig
einsteigen und die Dinge auseinandernehmen und wird feststellen, dass
'vielleicht' ein Modalwort respektive Satzadverb sein kann oder dass es
in eine der verschiedenen Unterkategorien von Partikeln fällt. Das weiß
aber der durchschnittlich geschulte Deutsche nicht, und an diesem Nicht-
Wissen haben die Deutschlehrer einen nicht unerheblichen Anteil. Viele
wollen das auch nicht wissen und sagen, mir reicht das, was in meinem Duden
von anno dunnemals steht, und da steht Adverb. Und schon ist die ganze
rationale Diskussion entweder an ihr Ende gelangt. oder sie wird überaus
mühselig für die, welche sich bislang wenig oder gar nicht damit beschäf-
tigt hatten.
Kurz: In vielen Fällen kann es sinnvoll sein, an dieses von Dir 'Fähigkeit
zu unterschwelliger Mustererkennung' genannte Unterbewusstsein zu appel-
lieren, um die Dinge nicht 'unnötig zu verkomplizieren'.
In diesem Sinne hatte das verstanden werden wollen, wenn ich von einem
'Objekt-Gefühl' geschrieben habe: als der erahnte Bedeutungsunterschied
zwischen 'ich lese die Zeitung' und 'ich lese Zeitung'. Deutlicher noch
wird es in einem Satz wie Helmuts 'ich sauge Staub', in dem man das
'Nicht-Objekt' nicht sinnvoll erfragen kann sondern nur noch den
ganzen Verbverband: Was tust du da?
Dass es so etwas wie ein 'grammatisches Gefühl' tatsächlich gibt, sieht man
immer dann recht deutlich, wenn sich der Sprachgebrauch über tradierte
Regeln hinwegsetzt: 'nicht brauchen' fungiert in entsprechenden Kontexten
als Modalverb und passt sich den anderen Modalverben an; bei von Ortsnamen
abgeleiteten Herkunftsbezeichnungen setzt sich allmählich die Erkenntnis
durch, dass sie von den meisten Deutschen als Adjektive aufgefasst werden;
dass von Nomina abgeleitete Farbadjektive nicht gebeugt werden dürfen,
wird in der sprachlichen Alltagsrealität komplett ignoriert; dass ein
Großteil sogenannter Adjektive von Deutschsprechern als Artikel(wörter)
empfunden werden, weil sie aufgrund ihrer Bedeutung den Artikelwörtern
entsprechende Funktionen innehaben, wird inzwischen von den Grammatiken
wahrgenommen. Dass Pronomen keine Artikel sind, darf jetzt wenigstens im
DAF und DaZ gelten, und vielleicht kommt es auch irgendwann mal in der
nicht-fremdsprachlichen Deutschlehrerausbildung an.
Man hat es jedoch, wenn immer man hart an der Sache entlang argumentiert,
mit unglaublich starken Beharrungswünschen von Traditionalisten zu tun,
die am liebsten alle grammatischen Kategorien der Ars latina für die
nächsten paar tausend Jahre festschreiben würden. Im grammatischen
Spezialistenalltag sind die Dinge inzwischen so kompliziert geworden,
dass sie nicht mehr ohne weiteres zugänglich sind. Dabei bleibt diese
Komplexität meinem Eindruck nach jedoch weit hinter dem zurück, was in den
Natur- oder Ingenieurswissenschaften Standard ist. In einem
massentauglicheren Produkt wie der Duden-Grammatik will man sich immer noch
verständlich machen und sein Wissen dem Allgemeinbewusstsein vermitteln; ich
bezweifle allerdings, ob das überhaupt noch möglich ist.
Dass es so etwas wie das von mir 'Grammatik-Gefühl' Genannte gibt, sieht
man daran, dass Kinder Sprachen ohne Grammatik lernen. Es gibt Jazzmusiker,
die spielen ihre melodischen Variationen genau passend zu den Harmonien,
ohne Noten lesen und ohne die Harmonien analysieren zu können. Sie tun das
aus ihrer Intuition heraus, und diese Intuition ist mehr auf der Seite des
Gefühls angesiedelt als auf der Seite von analysierbaren Bewusstseins-
inhalten.
Auch wenn Du immer wieder wider Sprachgefühlsduselei anpredigst: Es gibt
so etwas wie Sprachgefühl, das ist für mich keine Mystifikation. Gäbe
es sie nicht, hätten Deutschlehrer früher - wie das heute gehandhabt wird,
weiß ich nicht - ihre liebe Not gehabt, so etwas wie einen 'Ausdrucksfehler'
zu begründen.
Grüße: Ralf Joerres